Kurs-Kapitel

4.6 Träume

       

Das Unbewusste zeigt sich im Traum

Neben dem Typenmodell der Kellerkinder ist die Arbeit mit Träumen eine weitere Möglichkeit, Zugang zu unserem Unbewussten zu bekommen. Und zwar jede Nacht.
Wir brauchen unsere Träume, denn sie sind zur Stabilisierung unseres seelischen Gleichgewichts notwendig. Im Traum wird jede Nacht das verarbeitet, was tagsüber an Reizen, Konflikten, Erlebnissen und Eindrücken von außen und innen auf uns einstürzt.


C. G. Jung untersuchte und analysierte 80 000 Träume und sah den Traum als reinstes Produkt des Unbewussten. Im herabgesetzten Bewusstseinszustand, dem Traumbewusstsein, haben wir visuelle Vorstellungen, die ohne Lenkung durch das ICH, also unbewusst auftreten (mit Ausnahme von luziden Träumen).
Der Traum bringt uns unverfälschtes Material, denn das Unbewusste ist unbestechlich. Paracelsus sagte:

Was der Traum zeigt, ist der Schatten dessen, was an Weisheit im Menschen vorhanden ist, selbst wenn er im Wachzustand nichts davon wissen mag.

Unser Unbewusstes zeigt sich im Traum in Form von Symbolen, Bildern, Gefühlen, Figuren, Kellerkindern und Geschichten. Damit können wir therapeutisch arbeiten. Der Traum ist unsere eigene spontane Schöpfung, unsere kreative Fähigkeit, Erlebtes zu gestalten, Wünsche sichtbar zu machen, Konflikte darzustellen, Nichterlebtes zu leben, Nichtgehörtes zu hören, Nichtgesagtes zu sagen. Im Traum verarbeiten wir Konflikte, assimilieren abgespaltene Teile unserer Persönlichkeit und artikulieren offene Gestalten und unerledigte Situationen.


Damit wir die Botschaft unseres Unbewussten verstehen können, bringen wir die Sprache der Träume, die der rechten Hirnhemisphäre zugeordnet ist, mit der Sprache des Tages, für die die linke Hirnhälfte zuständig ist, miteinander in Kontakt. Der Träumende soll selbst seine Traumsprache entschlüsseln, indem er in den Traum hinein lauscht, sich bewusst mit den auftauchenden Symbolen und Figuren verbindet und sie kennenlernt. Viele Aspekte im Traum sind innere Anteile des Träumers, die abgespalten und auf andere Objekte projiziert werden. Es sind unsere inneren Persönlichkeitsanteile, die hinter dem Vorhang warten oder im Keller eingesperrt sind. Unsere kreativen Kellerkinder melden sich, wir haben ihnen im Traum die Verantwortung übertragen.

Was bringt den Träumer dazu, gerade diesen bestimmten Teil aus dem unbewussten Datenspeicher auszuwählen?

Keine Wahl im Traum ist zufällig. Bei der Entschlüsselung des Traumes beziehen wir die gegenwärtige psychische Situation, das Tagesgeschehen und die Gesamtlebensumstände des Träumers sowie die archetypische Symbolik ein. Meistens erleben wir uns im Traum nicht als Täter, sondern als Opfer. Da wir uns unserer verbotenen Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche nicht bewusst sind, schieben wir sie anderen Verantwortungsträgern zu. Der Traum zeigt unsere verdrängten Anteile und lässt uns erleben, was wir sind und nicht sein wollen, und wie sehr wir erschrecken, dass wir dies sind.

Beispiel: Sara und ihr Traum vom wilden Tiger

Sara träumt, dass sie von einem wilden Tiger verfolgt wird. Schweißgebadet und voller Angst wacht sie auf, bevor der Tiger sie erwischt. Was hat dieser Traum zu bedeuten?
Um den Traum zu entschlüsseln, vollzieht Sara die Begegnung mit dem Geträumten noch einmal nach. Während sie den Traum in der Gegenwart erzählt, ist sie sich ihrer selbst bewusst. Sara übernimmt die Regie und inszeniert selbst ihren Traum. Dazu setzt sie den Tiger imaginär auf einen Stuhl, spürt, wie es ihr geht, wenn sie den Tiger anschaut, und nimmt Kontakt mit ihm auf. Sie begegnet ihrem Traumelement, dem wilden Tiger. Als Sara während der Traumarbeit in einen Dialog mit ihm tritt, erfährt sie seine wahre Motivation:

Sara: Warum verfolgst du mich? Verschwinde!
Tiger: Nein! Ich habe es satt, immer eingesperrt zu werden. Du schenkst mir nie Beachtung!
Sara: Wieso sollte ich auch? Ich versuche, in Harmonie zu leben und mit allen Menschen gut auszukommen. Du bist gefährlich und aggressiv!
Tiger: Genau das ist es ja! Du bist so mit deiner Anpassung und Konfliktvermeidung beschäftigt, dass du mich einsperrst. Aber ich bin nicht aggressiv und gefährlich, nur kraftvoll und sehr lebendig!
Sara: Ich weiß nicht, was du willst!
Tiger: Ich will meine eigene Kraft und Wildheit spüren und die Freiheit genießen. Ich will lebendig sein!


Was ist passiert?

Da Sara in letzter Zeit keinem Tiger begegnet ist, gehen wir davon aus, dass es sich um eine Symbolik ihrer Persönlichkeit handelt und sich im Traum ihr Unbewusstes zeigt. Sara übernimmt die Verantwortung für ihren Traum und versteht sich als dessen Urheberin. Sie spielt ihren Traum nach und erweckt ihn zum Leben. Als Regisseurin gibt sie ihrem inneren Tiger im Außen einen Platz, würdigt ihn und nimmt Kontakt mit ihm auf. Sie spricht den Tiger an und begegnet ihrem Traumelement als »Du«.


Dann wechselt sie den Platz und identifiziert sich mit dem Tiger. Sie verkörpert den Tiger als ich und übernimmt durch die Identifikation Verantwortung für das, was sie ist und für das, was sie nicht sein möchte. Sara assimiliert ihren Tiger, das heißt sie holt den Tiger aus dem Keller und lässt ihn auf die Bühne. Sie begreift, dass der Tiger ein Teil ihrer Persönlichkeit ist und ein Symbol für ihre eigene animalische Natur, die sie lange in den Schatten verdrängt hat. Der wilde Tiger wurde nur aggressiv, weil er um sein Überleben kämpfen musste. Als lebenswichtiger Persönlichkeitsanteil verfolgte er Sara im Traum, denn nur so wurde er von ihr wahrgenommen.

Der nächste Schritt

Der wilde Tiger im Traum ist hilfreich für Saras Wirklichkeit, denn er macht ihr ihre eigene Kraft, Wildheit und Lebendigkeit bewusst. Für Sara steht es jetzt an, diese Themen in ihr Leben zu integrieren und aus ihrem Schatten-Dasein zu befreien.

Einzel-Übung zur Traumdeutung

Achten Sie auf Ihre Träume und schreiben Sie diese auf. Lernen Sie, Ihre Träume zu deuten und die verborgenen und unbewussten Anteile ans Licht zu bringen. Der Schatten drückt sich gerne symbolisch oder bildhaft in unseren Träumen aus.

Das habe ich letzte Nacht geträumt:

Diese Symbole sind in meinem Traum aufgetaucht:

Diese Figuren und Gestalten kommen in meinem Traum vor:

Mit diesen Gefühlen bin ich aufgewacht:

Dieses Traumsymbol hat die stärkste (positive oder negative) Kraft:


Versetzen Sie sich in das kraftvollste Traumsymbol hinein und sprechen Sie aus dessen Perspektive über die Gefühle, Anliegen und Aggressionen.

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