Kurs-Kapitel

4.4 Im Keller des Unbewussten

       

Herzlichen Glückwunsch! Sie sind sich selbst wieder ein Stück näher gekommen. Wer da wohl noch alles in Ihnen schlummert?
Auf der Stufe der Verbannung in den Hintergrund reicht es oft, wenn Sie den unbeliebten Anteil im Interview kennenlernen. Anschließend können Sie ihn mit seinem Antipoden, der sich auf der Bühne befindet, sprechen lassen. Dazu bekommt jeder Teil einen Stuhl und Sie wechseln zwischen den Stühlen hin und her. Kommt jedes Teammitglied an die frische Luft und auf die Bühne, können sie unter der Leitung eines starken Selbst ihre Lebensenergie konstruktiv einbringen. Die Außenseiter können bei einer klaren und guten inneren Führung integriert werden und ihr Potential entfalten. Denn die heilsamen Gegenspieler, Antipoden, können erst durch Teambildung und Balance ihre positive Qualität entfalten. Solange sie alleine auf der Bühne stehen, weil sich der andere hinter dem Vorhang befindet, verkommt ihre Tugend und wird zum Stressfaktor.

Beispiel: Großzügigkeit braucht Grenzen

Anna ist von Natur aus großzügig. Ihre Eltern haben ihre Offenheit und Großzügigkeit in der Kindheit sehr geschätzt und unterstützt. Wollte Anna mal etwas für sich behalten und grenzte sich ab, bekam sie Liebesentzug. So lernte Anna, dass es besser für sie ist, großzügig zu sein als sich abzugrenzen. Sie wurde immer großzügiger, auch wenn ihr gar nicht danach zumute war.
Im Laufe der Entwicklung verlernte Anna, sich abgrenzen zu können. Ihre Achtsamkeit für die eigene Grenze ging verloren. Sie war immer offen für alles, denn »NEIN« war ein Fremdwort für sie geworden. Andere nutzten ihre Offenheit aus und Anna ging es elend. Es gab keine Balance in ihr, denn die heilsame Gegenspielerin war im Keller. Anna tauchte hinab und stieß als erstes auf die Kommentare ihrer Eltern: »Wenn du nicht teilst, bist du kleinkariert und spießig!« und »Sag lieber JA als NEIN« und »Du darfst keine Grenzen setzen«.
Es war extrem unangenehm für Anna, das zu hören. Aber sie ging durch und konfrontierte sich damit. Sie befreite die Spießigkeit, die sie von ihren Eltern internalisiert hatte, gab ihr einen Platz und setzte sie ihrer grenzenlosen Öffnung gegenüber. Das entspannte. Nun hatte sie eine
Wahlfreiheit. Sie konnte JA und NEIN sagen.

Grenzenlose Öffnung ↔ Spießigkeit


Ihr spießiger Anteil lernte freundlicher zu sein und entfaltete seine Qualität, sich abgrenzen zu können. Anna war nun in der Lage, ein freundliches und bestimmtes NEIN zu sagen und hatte damit ein neues Lebensgefühl gewonnen. Da sie jetzt in der Lage war, sich abzugrenzen, konnte sie auch wieder großzügiger werden – ohne Angst, ausgenutzt zu werden. Sie entwickelte ein Gespür für ihre Grenze und konnte je nach Situation frei entscheiden, ob sie sich abgrenzen oder ob sie geben wollte. Beide inneren Anteile waren nicht mehr polarisiert, sondern integriert und Anna konnte bewusst entscheiden, welches Verhalten in welcher Situation angemessen ist.

Wenn Persönlichkeitsanteile jedoch zu bedrohlich und fies für uns sind, dann verleugnen wir sie. Nicht einmal hinter dem Vorhang können wir sie dulden. Sie müssen ganz von der Bildfläche verschwinden. Ab in den Keller. Dort vergessen wir sie dann und denken: »So bin ich nicht!« Weder unsere Mitmenschen noch wir selbst wissen, dass diese düsteren Gestalten oder unser inneres Kind da sind. Wir merken nur ihre Wirkung, wenn sie aus dem Verborgenen heraus sabotieren und sich unerhört benehmen. Unser Körper wird krank, die Psyche labil und wir sind am Ende unserer Kraft.
Aufgrund der Verleugnung und Abspaltung können wir das »Gesindel« nicht interviewen. Wir wissen ja nicht mehr, dass es da ist. Es liegt in unserem Unbewussten.
Wie können wir also verdrängte Anteile aus dem Keller befreien?


Da unser Schatten unbewusst ist, können wir ihn naturgemäß nur schwer erkennen. Es braucht ein paar Tricks, um Zugang zum Unbewussten zu bekommen. Im Folgenden zeige ich Ihnen einige Möglichkeiten auf.
Grundsätzlich können wir einen Schatten daran erkennen, dass wir mit ihm in Resonanz sind.

  • Wenn uns zum Beispiel eine bestimmte Eigenschaft bei jemand anderem stört, wir aber der Überzeugung sind, dass wir so etwas natürlich nie tun würden – dann liegt diese Eigenschaft bei uns im Schatten. Allein, dass wir bei unseren Mitmenschen so stark darauf reagieren, offenbart, dass sie auch mit uns zu tun hat.
  • Auch die Fähigkeiten, die wir bei anderen Menschen besonders toll finden, uns selbst aber nie zutrauen würden, haben mit uns zu tun – schlicht, weil wir damit in Resonanz gehen.
  • Handlungsmuster, in denen wir uns gegen unseren Willen wiederfinden, verweisen auf den unbewusst handelnden Anteil.
  • Und nicht zuletzt die Seiten an uns, die wir zwar kennen, aber anderen nicht gern unverfälscht zeigen.

Als nächstes stelle ich Ihnen einige Methoden vor, die geeignet sind, uns den Zugang zu unseren verdrängten Anteilen zu ermöglichen.

Zugänge zum Unbewussten

• Spiel und Tanz, zum Beispiel mit den Kellerkindern nach Johannes Galli
• Befreiung des eigenen Clowns
• Projektionen erkennen (Schattentagebuch führen o. ä.)
• Tiefenentspannung oder Trance
• Unseren Partner und Mitmenschen fragen – andere sehen unseren Schatten leichter als wir selbst
• Therapie machen
• Arbeit mit Träumen
• Dunkelretreat
• Systemische oder verdeckte Aufstellungen

Wenn wir durch eine dieser Methoden Zugang zu unserem Unbewussten finden, im Keller sind und dort jemandem gegenüberstehen, wird das oft unangenehm sein. Wir spüren die Enge und Dichte, unsere Verwicklungen und Verstrickungen, fühlen uns nackt und existenziell bedroht. Oft müssen wir durch dieses Nadelöhr und den Engpass hindurch.
Erinnern Sie sich an die Warnschilder zu Beginn dieser Etappe? Kurz vor dem Engpass spüren wir die drohende Gefahr und die wollen wir vermeiden. Wir wollen dem Dunklen und Quälgeist nicht begegnen und nehmen lieber einen anderen Weg. Wie bisher immer an dieser Stelle im Leben.
Als Reiseleiterin ermutige ich Sie besonders an dieser Stelle, dranzubleiben und durchzugehen. Sie haben ja die Reise gebucht und der Teil in Ihrem Keller wartet sehnlichst auf seine Befreiung. Aber Sie sind Ihr/e Chef*in und entscheiden selbst.


Sind Sie bereit, dem gegenüberzutreten, was Sie bisher nicht wahrhaben wollten?
Dieser Teil erscheint Ihnen wahrscheinlich als Bösewicht, Widersacher oder Quälgeist. Aber auch er hat eine Gabe und in ihm liegt Ihr ganz persönlicher Schatz!

Übung zum Umgang mit Quälgeistern

1) Identifizieren Sie den Bösewicht. Zwingen Sie den Miesepeter (zum Beispiel die Selbstzweifler, die Pessimisten), seine Anonymität aufzugeben und mit der Sprache herauszukommen. Geben Sie ihm einen vorläufigen Namen. So wird er angreifbar. Durch das Aufgedeckt-Werden verliert er schon einen Teil seiner Macht.

Diesen Namen gebe ich meinem Quälgeist:

•Lernen Sie Ihre Pappenheimer und ihre Methoden sehr gut kennen.
• Schauen Sie genau hin, ob es wirklich ein Widersacher ist oder ob er nur deswegen im Keller ist, weil Ihr ICH sich mit seinem Gegenspieler identifiziert hat.
• Finden Sie heraus, welcher Gegenspieler den Quälgeist womöglich erfolgreich in Schach hält.

Das könnte der Gegenspieler meines Quälgeistes sein:


2) Identifizieren Sie sich mit dem Quälgeist und erkennen sie an, dass er zu Ihnen gehört und ein Teil von Ihnen ist. Dazu können Sie den Quälgeist imaginär auf einen Stuhl setzen, ihn interviewen und anschließend seinen Platz einnehmen.

So denke und fühle ich als mein Quälgeist:


3) Nachdem Sie ihn integriert haben, können Sie sich durch die dritte Position des Selbst wieder desidentifizieren. Sie SIND nicht der Quälgeist, er ist NUR ein Teil von Ihnen. Befreien Sie sich durch eine gute innere Führung von seiner Belagerung, geben Sie ihm einen angemessenen Platz und gewinnen Sie Ihre Führungsqualitäten zurück. Bekämpfen Sie nicht den Bösewicht, erwarten Sie nicht, dass er verschwindet, sondern finden Sie seine Funktion und Leistung für das gesamte System heraus und würdigen Sie dies. Mobilisieren Sie dadurch
Ihre Ressourcen.

Das könnte die Funktion oder gute Absicht meines Quälgeistes für mein gesamtes System sein:



• Welche Aufgabe will er erfüllen? Erkunden Sie die gute Absicht und erfinden Sie kreative Verhaltensweisen, die das Ziel konstruktiv erreichen.

So könnte ich die Aufgabe und Absicht des Quälgeistes anders erfüllen:



• Finden Sie den Wert des Quälgeistes heraus. Die destruktive Qualität ist eine entgleiste Tugend, ein Zuviel des Guten, weil die dazugehörige Schwestertugend, Antipode, nicht ausreichend vorhanden war. Holen Sie deshalb die inneren Gegenspieler herbei, die eine heilsame Ergänzung sind, zum Beispiel:
»Sei perfekt« ↔ »Sei du selbst« oder
»Mach schnell« ↔ »Nimm dir Zeit« oder
»Sei stark« ↔ »Respektiere deine Grenzen«.

Die Suche nach heilsamen Gegenspielern ermöglicht eine Teamentwicklung, bei der der Widersacher seine Feind-Qualität verliert und seinen Wertbeitrag auf andere Art als zuvor beisteuert.

Das könnte eine heilsame Gegenspielerin für meinen Quälgeist sein:

Beispiel: Einem Schattenanteil begegnen


Nadja kam niedergeschlagen in meine Praxis und hatte das Gefühl, innerlich verfolgt zu werden. Sie hatte große Angst. In unserem Gespräch wurde deutlich, dass sich ein Schattenanteil von ihr meldete und auf seine Befreiung wartete. Es war keine äußere Verfolgung, sondern eine innere. Nadja war klar, dass sie vor sich selbst nicht weglaufen konnte und sie wollte sich diesem bedrohlichen Gegenüber nun stellen.
Schon ihr Keller war gruselig und darin hausten noch gruseligere Gestalten. Als sie mir diese beschrieb, bekam ich eine Gänsehaut und mir lief ein Schauer über den Rücken. Sie nahm Massenmörder war, es ging um Gewalt und Sexualität und sie hatte Todesangst.
Wir holten den abscheulichsten Teil aus ihrem Keller und setzten ihn imaginär auf einen Stuhl.
Diesen Stuhl mit dem Massenmörder rückten wir mehrere Meter weit weg. Ich saß nah an Nadjas Seite und konnte deutlich ihre Angst spüren. Der Raum war dicht, Nadja atmete flach und brachte kaum ein Wort heraus.
Ich ermutigte sie präsent zu bleiben, bewusst zu atmen, den Massenmörder direkt anzuschauen und ihn anzusprechen, damit er seine Anonymität aufgibt. Sie fragte ihn mit zitternder Stimme: »Wer bist du und was willst du?« Nadja überlebte die Frage und konnte schon etwas leichter atmen. Ich empfahl ihr, auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben und die Position nicht zu wechseln. Im Laufe des Kontaktes veränderte sich ihr Gegenüber. Plötzlich saß da ein Mann in Jeans und sie redete mit ihm. Sie rückte ihm auf ihrem Stuhl ein Stück näher und lernte ihn kennen. Auf einmal wirkte er eingeschüchtert wie ein kleiner Junge und meine Klientin hatte das Gefühl, ihn schützen zu müssen.
Wir arbeiteten weiter und je mehr sie ihrem Gegenüber liebevolle Aufmerksamkeit schenkte, desto schneller verwandelte er sich. Nach etwa 30 Minuten war aus dem Massenmörder ein Reiter der Freiheit geworden. Er war ein Tierliebhaber, der in der weiten Natur alleine auf seinem weißen Pferd umher ritt und das Leben und die Freiheit genoss.

Nach dieser tiefen inneren Arbeit ging Nadja gut gelaunt und mit neuer Kraft nach Hause. Nadja traute sich, ihrem hässlichen und gruseligen Schatten gegenüberzutreten und durch den Engpass zu gehen. Dafür wurde sie reich belohnt. Der Reiter symbolisierte Eigenschaften, die ihr zu diesem Zeitpunkt im Leben fehlten. Indem sie die Tür zu ihrem Keller öffnete und dem Unbekannten einen Platz gab, konnte sie die Fähigkeiten des Reiters in sich integrieren und mit einem ganz neuen Freiheitsgefühl durch ihr Leben reiten.

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